Psychologische Sicherheit – ein billiger Anspruch

Spätestens seit 2019, als Amy Edmondson und ihre Kollegen das Buch „The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth” veröffentlicht haben, ist die Idee der Psychologischen Sicherheit in aller Munde. Das Buch ist lesenswert (1). Wer es eilig hat, dem sei der knapp 4-minütige TED-Talk mit Frau Edmondson ans Herz gelegt.

Eines ist klar. Wo Aufgaben zunehmend Kreativität und Teamwork erfordern, weil sie in Bezug auf die Ergebnisse und die Wege dorthin unklar oder unsicher sind, braucht es eine Arbeitswelt, in der Menschen offen Ideen artikulieren, auf potenzielle Fehler hinweisen, sich gegenseitig herausfordern und hinterfragen. Wer will das bezweifeln?

Aber irgendetwas hat mich schon immer an der Idee der psychologischen Sicherheit zutiefst irritiert.

Edmondson geht von einer Wirklichkeit aus, in der despotische Chefs (in ihrem Buch sind das ausschließlich Männer) ihre Mitarbeiter zu gehorsamen Untertanen knechten. Ihr prototypisches Beispiel ist der tyrannische, selbstherrliche Chefarzt, der die Krankenschwester unterdrückt und ihr keinen Raum lässt, das zu tun, was doch eigentlich sinnvoll wäre. Und dann liefert sie die Lösung: psychologische Sicherheit. Vor allem die Führungskräfte sollten einen Raum bieten, in dem Mitarbeiter Fragen stellen, Ideen artikulieren oder auf Fehler hinweisen dürfen.

Aber jetzt mal ehrlich. Ist das nicht ein bisschen wenig? Was würden wir von einem Eheberater halten, der den glorreichen Vorschlag lieferte, Ehemänner sollten ihren Ehefrauen erlauben, auch mal einen eigenen Wunsch artikulieren zu dürfen, damit sie weniger Angst vor ihrem Gatten erfahren müssen? „Wow“ würde wir überrascht denken. Was ist das für ein billiger Anspruch? Von welchem Eheverständnis und von welcher Realität geht dieser Eheberater aus? In Bezug auf das Thema Führung sind wir doch hoffentlich längst weiter. Zumindest sollte unser Anspruch deutlich darüber hinaus gehen.

Wir wollen keine Mitarbeiter, die mitdenken. Wir wollen Mitarbeiter, die denken. Wir wollen Mitarbeiter keinen Raum geben, in dem sie auch mal Ideen artikulieren dürfen. Wir wollen, dass Mitarbeiter die Entwicklung, Artikulation und Umsetzung von Ideen als ihre eigentliche Aufgabe begreifen. In Führungsumwelten, die von hoher Aufgabenunsicherheit geprägt sind, wollen wir keine Führungskräfte, die ihren Geführten hie und da erlauben, auch mal kritisch nachzufragen oder fachliche Dinge kontrovers zu diskutieren. Wir wollen Führungskräfte, die genau dies aktiv einfordern. Das sind Führungskräfte, die partnerschaftlich oder in der Rolle des Coaches agieren. Wir wollen Mitarbeiter nicht mitnehmen, sondern sie als aktive, kreative Gestalter begreifen. Wir wollen in unseren Mitarbeitern keine verletzlichen, empfindlichen Wesen sehen, die in irgendeiner Weise von ihren Chefs infantilisiert und behütet werden müssen. Wir wollen mutige Mitarbeiter sehen, die sich wechselseitig vertrauen. Diejenigen, die in Unternehmen oder auch in der Gesellschaft jemals etwas bewirkt haben, waren selten jene, die nach psychologischer Sicherheit gefragt haben.

Ich weiß, diese Vorstellungen sind in weiten Teilen idealisiert. Aber gerade in Führungsumwelten, die von einer hohen Unsicherheit, Dynamik und Vernetztheit geprägt sind, in denen es auf Kreativität ankommt und die Geführten ihren Führungskräften fachlich überlegen sind, sollte dies unser Anspruch sein.

Wenn ich die öffentliche Debatte rund um das Thema psychologischer Sicherheit verfolge, bekomme ich den Eindruck, diese Idee würde als Fortschritt begriffen. Ich sehe das anders. Sollte psychologische Sicherheit der neue Standard darstellen, wäre dies aus meiner Sicht eher ein Rückschritt.

(1) Edmondson, A.C. (2019). The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth. New Jersey: John Wiley & Sons.

Mein Buch zur Thematik

In diesem Buch steht nicht, was das „richtige“ Führungsverständnis ist. Es wird gezeigt, wie man es entwickelt, vermittelt und danach handelt.

Mein Ansatz im Überblick

Hier finden Sie einen Überblick über meinen Ansatz. Er ist erprobt und funktioniert. Führungskräfte schätzen ihn.

Vier Führungsrollen

Ich unterscheide 4 Führungsrollen, die Führungskräfte als Bausteine ihres Führungsverständnisses im Sinne eines „Default Setting“ priorisieren können.