Vorsicht Fachkarriere

Wenn ich mit Personalleitern über das Thema „Fachkarriere“ diskutiere, haben diese meist ganz bestimmte Personen in ihrem Unternehmen vor Augen. Da ist zum Beispiel Jürgen. Jürgen ist in seinem speziellen Fachgebiet ein echter Experte. Er kann etwas, was nur wenige können und ist darin für das Unternehmen extrem wichtig. Wenn Jürgen kündigen würde wäre dies für sein Unternehmen eine Riesenkatastrophe. Leute wie ihn gibt es auf dem Arbeitsmarkt nur sehr wenige. Den Geschäftsführer könnte man vergleichsweise einfach ersetzen, Jürgen nicht.

Da Jürgen keine Führungsverantwortung hat ist er einer unteren Gehaltsstufe zugeordnet. Jürgen will auch nicht führen. Unternehmenspolitik liegt ihm fern. Er liebt seine Aufgabe und für zahllose und aus seiner Sicht sinnlosen Meetings hat er weder den Nerv noch die Zeit. Für Personalleiter sind solche Fälle der blanke Horror. Wie soll er Jürgen erklären, warum er nur das verdient, was auf dem Gehaltszettel steht obwohl beide wissen, wie wichtig Jürgen eigentlich ist? Warum bekommt er keinen Firmenwagen nur weil er einer unteren Gehaltsstufe zugeordnet ist? Die Lösung lautet: Fachkarriere!

Mir ist Jürgen sehr sympathisch. Wir sind uns in gewisser Weise ähnlich. Ich selbst kann nicht führen, will das auch nicht. Zum Glück weiß ich das. Deshalb habe ich mich für eine Fachkarriere entschieden und bin Professor geworden. Jetzt habe ich die Freiheit das zu tun, was mir wichtig erscheint. Ich habe nichts gegen Führungskräfte, bin aber froh keinen Boss zu haben – zumindest kenne ich ihn nicht. An unserer Hochschule gibt es auch Manager, aber die sind letztendlich nur dafür da, dass ich einen guten Job machen kann. Ich verdiene anständig und führe einen schicken Titel. Was will man mehr?
Es gibt noch viele andere gute Beispiele von Fachkarrieren. Denken wir nur an Sebastian Vettel, Albert Einstein, Romy Schneider, Bob Dylan, Günther Grass, Heidi Klum. Sie sind alle ihren Weg gegangen, haben „Karriere gemacht“ aber mussten noch nie wirklich Mitarbeiter führen. Zumindest hielt sich deren Führungsverantwortung in überschaubarem Rahmen. In deren Umfeld gibt es Manager – allerdings in der zweiten Reihe.

Was wir heute unter dem Label „Fachkarriere“ in den meisten Unternehmen vorfinden hat mit diesen Beispielen nichts zu tun. Es geht dabei in erster Linie darum, geschätzte Experten „bei der Stange zu halten“. Dafür entwickelt man zu den existierenden Gehaltsstufen parallele Gehaltsstufen für Mitarbeiter ohne Führungsverantwortung. Man vergibt besondere Privilegien, wie etwa flexiblere Arbeitsstrukturen oder wohl klingende Titel: „Senior Irgendwas Fellow“ und gewährt den so genannten Experten ein eigenes Budget für die eigene Weiterbildung, dessen Verwendung aber vom jeweiligen Chef abgesegnet werden muss.

Aber, machen wir uns nichts vor: In solchen Systemen sind Manager nach wie vor die eigentlichen Helden. Sie fällen relevante Entscheidungen und bestimmen über die Zukunft von Experten. Sie haben nicht nur die Macht sondern genießen auch das höhere Maß an Anerkennung in ihrer Organisation. Das werden sich die Manager auch trotz aller Bemühungen der Personalabteilung nicht nehmen lassen: „Wenn Jürgen geht, dann geht er halt, so leid uns das tut. Hauptsache ich bleibe, was ich bin“.