Als ich vor etwa 30 Jahren angefangen habe, Psychologie zu studieren war es mein Ziel, systemischer Familientherapeut zu werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits zwei Jahre hinter mir, in denen ich in einer kleinen, psychiatrischen Einrichtung gelernt hatte, intensiv mit Menschen zu arbeiten. Das war eine wunderbare, lehrreiche Zeit. Irgendwann im Laufe meines Studiums wendete ich mich dann der Arbeits- und Organisationspsychologie zu und landete schließlich dort, wo viele meiner Kommilitonen landeten: in der Personalentwicklung eines großen Konzerns. Meine Karriere als Personaler nahm ihren Lauf. Ich implementierte Leistungsbeurteilungssysteme, ohne mich jemals fragen zu müssen, was Leistung auf Seiten der Betroffenen eigentlich konkret bedeutet. Ich führte Mitarbeiterbefragungen durch, ohne mich für die Belange eines Mitarbeiters persönlich interessieren zu müssen. Ich führte Recruiting-Prozesse ein, ohne einem Bewerber persönlich zu begegnen. Anders als bei meiner Tätigkeit im psychiatrischen Umfeld wurde mir irgendwann klar, dass HR in großen Konzernen vor allem bedeutet, Prozesse, Instrumente, Systeme, Programme auf die Beine zu stellen und sie am Laufen zu halten. Mit der Arbeit am Menschen hat all dies sehr wenig zu tun.
Grundsätzlich ist das in Ordnung. Man lernt und akzeptiert ja schnell, dass man kein Personaler sein sollte, wenn man gerne mit Menschen arbeitet. Über die Jahre hinweg wurde aber meine innere Abneigung, die von Anfang an latent spürbar war, immer deutlicher. Dabei sind es nicht die Systeme an sich, die für mich immer unerträglicher wurden, sondern die Haltung mit der diese Systeme entwickelt und am Leben erhalten werden. Man findet in den meisten, gängigen Lehrbüchern Darstellungen dieser Systeme – das jährliche Mitarbeitergespräch, Change Management, Kompetenzmanagement, Talentmanagement etc. Und ich muss zugeben, dass ich schon während meines Studiums Bücher zur Personalwirtschaft (so hieß das früher) gehasst habe. Es gibt wahrlich nichts Gruseligeres als ein klassisches Lehrbuch über das Personalwesen. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert, weder an meiner Reaktion noch an den Büchern an sich. Was dort beschrieben und größtenteils in der Praxis gelebt wird hat etwas Bevormundendes, nicht selten sogar etwas Menschenverachtendes. Hier wird der Mitarbeiter, der Mensch nicht als Subjekt sondern als Objekt behandelt. Er wird vermessen, beurteilt, entwickelt („upgeskillt“), befördert, versetzt, gekündigt, belohnt, gebunden usw. Man macht etwas mit der Humanressource. „Man“ ist das übergeordnete, unternehmerische System, repräsentiert durch die Personalabteilung als ausführendes Organ. All dies tut man unter dem Motto: „Den Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellen“. Was für eine Illusion. Auch der Betreiber einer Legebatterie stellt seine 10.000 Hühner in den Mittelpunkt.
Und dann wurde ich Professor für Human Resource Management. Ausgerechnet ich. Im Nachhinein betrachtet war dies der ideale Zeitpunkt. Die Unternehmen wachten langsam auf und fingen an, umzudenken. Am Anfang stand der Fachkräftemangel und plötzlich mussten wir lernen, Bewerber und Kandidaten wertzuschätzen, sich für ihre Präferenzen zu interessieren, uns bei ihnen zu bewerben und nicht umgekehrt. Mein erstes Buch erschien: „Employer Branding“. Wie können wir als Arbeitgeber überzeugen? Dann folge das Buch „Talent Relationship Management“. Nach weiteren Büchern machte ich mich an einem besonders entmündigenden HR-Instrument zu schaffen, nämlich am jährlichen Mitarbeitergespräch. Das Buch „Unter den Erwartungen“ erschien und nichts freute mich mehr, als die große Irritation gepaart mit breiter, positiver Resonanz. Ich hatte die vergangenen Jahre wirklich Glück, weil ein schrittweises Erwachen in der HR Community immer sichtbarer wurde. Neue Generationen von Personaler ergriffen das Ruder, unterstützt von neuen Generationen von Geschäftsführern. Über all die Jahre empfand ich es als eine wunderbare Aufgabe, immer wieder Kohlen in das aufflammende Feuer zu werfen, kritisch, provozierend aber immer auch konstruktiv und nah an der Praxis. Es schien, als träfen meine Haltung und der Zeitgeist aufeinander und ich durfte eine aktive Rolle in dieser Entwicklung spielen.
Wie sehr begrüße ich nun die immer lauter werdende Diskussion um das Thema Agilität. Für mich ist Agilität weit mehr als nur ein Buzzword. Es symbolisiert eine längst überfällige Entwicklung in Richtung einer sich ändernden Haltung. Der Mitarbeiter als mündiges Wesen. Mein großes Vorbild Douglas McGregor erwacht zu neuer Bedeutung und selten war seine Gegenüberstellung der Theorien X – Menschen sind von Natur aus faul und müssen an kurzer Leine geführt werden –- und dem humanistischen Gegenentwurf der Theorie Y wichtiger und lebendiger. Im Zuge dieser Entwicklung war es mein großer Traum, endlich ein umfassendes Buch zu schreiben, das HR aus Sicht von Theorie X und Y behandelt. Wie sieht HR in einem traditionellen, hierarchischen und nach Stabilität strebenden Unternehmen aus und wie stellen sich die Dinge in einem agilen Kontext dar? Was für eine spannende Frage! Dieses Buch zu schreiben, war mir ein echtes Herzensanliegen. Dabei geht es hier um deutlich mehr, als nur um das Menschenbild eines mündigen Menschen. Es geht letztendlich um die Wettbewerbsfähigkeit zahlreicher, stolzer Unternehmen. Ich teile die Auffassung, dass Agilität für die Mehrheit der Unternehmen eine Grundvoraussetzung ist, um in aktuellen und zukünftigen Märkten bestehen zu können. Und HR spielt darin eine wesentliche Rolle.
Als ich im Jahr 2017 dieses Buch in Angriff nahm, hatte ich großen Respekt vor dieser Aufgabe. Ich war angefüllt von Ideen, einer Haltung, von einer Ahnung dessen, was ich schreiben würde. Am Ende war das Verfassen dieses Buches eine lange Reise in etwas Ungewisses. Dass ein solches Buch statischen Charakter hat, man gezwungen ist, Gedanken schwarz auf weiß und damit endgültig zu fixieren ist für mich nur schwer zu ertragen. Denn die Reise geht weiter und alles, was ich in diesem Buch schreibe ist lediglich eine Momentaufnahme. Agilität bedeutet eben auch, nie wirklich anzukommen.
Diese Reise fand nicht im stillen Kämmerchen statt sondern in einem konstanten Austausch mit zahlreichen, vorwärts denkenden, aufgeschlossenen Menschen und Unternehmen, die bereit waren, die Ungewissheit konstruktiv mitzutragen. An dieser Stelle folgt üblicherweise eine Danksagung an all jene, die konstruktiv zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Ich kann sie gar nicht alle nennen. Es sind die vielen Personaler, Geschäftsführer, Führungskräfte aber auch Studenten mit denen ich Stunden, gar Tage diskutiert und um Lösungen gerungen habe. Es sind die vielen Impulsgeber in den unendlich vielen Büchern, Artikeln, Blogs, TED-Talks, die es geschafft haben, mich kontinuierlich zu irritieren. Es ist aber auch meine Familie, die ein Jahr lang einen Vater und Ehemann erdulden musste, der phasenweise gedanklich abwesend war. Danke, Danke, Danke. Ich freue mich auf die weitere, lange Reise, die noch vor uns steht.
Armin Trost
Tübingen, 28.02.2018
Bei dem obigen Text handelt es sich um das Vorwort meines Buches Neue Personalstrategien zwischen Stabilität und Agilität, 2018 erschienen beim Verlag SpringerGabler.