Häufig gilt es als eine Stärke, lösungsorientiert zu sein. Der Eine reagiert auf ein bestehendes Problem unmittelbar mit einem Lösungsvorschlag. Der Andere schlägt zunächst vor, eine Doktorarbeit über Probleme und deren Ursachen anzufertigen. Man darf raten, wer die Lorbeeren erntet. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass Lösungsorientierung eine wesentliche Ursache dafür ist, dass viele HR-Konzepte ihren Praxistest nicht bestehen.
Auf Konferenzen der HR-Community werden meist Lösungen präsentiert. Man lernt, was andere Unternehmen tun. Berater bieten ihre Lösungsansätze feil. Viele Personaler gieren regelrecht nach Best Practices. Ihre eigene Unsicherheit lässt sie nach Lösungen anderer Unternehmen hungern. Blogs und Artikel über scheinbar erfolgreiche Ansätze erzielen die meisten Likes. Bosch macht jetzt das. Zalando macht jetzt dies. Wow! Ich war selten besser. In zahlreichen Büchern und Artikeln wurde ich nicht müde, zu beschreiben, was man tun sollte und wie man Dinge richtig macht. Das kam meist ziemlich gut an.
Die Rede ist von Employer Branding, Kompetenzmanagement, Mitarbeiter-befragung, das jährliche Mitarbeitergespräch, Working out Loud, Assessment Center, kollegiale Fallberatung, Talent Review, 360-Grad-Beurteilung, variable Vergütung, Betriebskindergarten, Online-Bewerbung, betriebliches Vorschlagswesen, Mitarbeiterempfehlungsprogramm, die Learning Journey ins Silicon Valley, Coaching, Mentoring und und und.
Lösungen geben uns Sicherheit. HR ist schließlich wage genug. Da hat man gerne etwas, woran man sich zügig festhalten kann, etwas greifbares, etwas zum präsentieren, etwas darstellbares, auf Folien etwa. Sobald man eine Lösung hat, besteht die Gefahr, dass man sich als Team in sie verliebt und gänzlich damit aufhört, sie zu hinterfragen, vor allem dann, wenn eine dominierende Führungspersönlichkeit die Lösung hoch hält. Der Psychologe nennt das „Gruppendenken“ (Groupthink). Und wenn der Vorstand oder gar der Betriebsrat einer Lösung zugestimmt hat, dann darf es kein Zurück mehr geben.
Das Problem der Lösungsorientierung besteht darin, dass wir häufig und zu schnell das Problem und dessen Kontext aus den Augen verlieren. Wenn 360-Beurteilung die Lösung ist, was ist dann das Problem und wer hat dieses? Wenn eine schriftliche Mitarbeiterbefragung die Lösung ist, wessen Problem wird damit gelöst und worin besteht dieses Problem? Es genügt nicht, nur einmal die „Warum“-Frage zu stellen. „Und warum wollen wir das machen?“. Man muss mindestens drei mal „Warum?“ in den Raum rufen um möglicherweise auf des Kaiser’s neue Kleider aufmerksam zu machen. Wir führen jetzt einen Betriebskindergarten ein. „Warum?“. Viele Mitarbeiter wünschen dies seit vielen Jahren. „Warum?“. Weil manche Mütter und Väter mehr Flexibilität in ihrer Lebensführung wünschen und wir uns darum kümmern sollten. „Warum?“. Das steigert deren Produktivität und Loyalität. „Warum?“. Was ist das Problem zu dessen Lösung der Betriebskindergarten beiträgt? Bitte nicht missverstehen. Ich habe pauschal nichts gegen Betriebskindergärten einzuwenden. Ich bin auch nicht grundsätzlich gegen Employer Branding, 360-Beurteilung etc. Im Gegenteil. Sobald wir uns aber angewöhnen, zuerst das Problem zu verstehen und diejenigen, die das Problem zu haben scheinen, dann werden wir besser in der Lage sein, auch die richtige Lösung zu entwickeln. Vor allem wird man nicht selten erkennen, dass ein Problem mehrere oder andere Lösungen kennt, als jene, die man zuallererst festgelegt hat.
Aktuell befindet sich die industrielle Großwetterlage in einem umfassenden Wandel. Digitalisierung und Industrie 4.0 verändern Technologien, Produkte und die Wirtschaft grundlegend. Vernetzte Produkte und Prozesse streben nach vernetzten Organisationen und damit einhergehend nach einem sich ändernden Verständnis von Führung und Organisation. Starre Hierarchien werden zunehmend durch sich selbst steuernde, laterale Netzwerkstrukturen ergänzt und teilweise abgelöst.
Wir werden weniger Bosse haben, dafür mehr Coaches und partnerschaftliche Führung auf Augenhöhe. Langfristige Planungszyklen mit hierarchischen Feedbackschleifen machen Platz für unmittelbares und kurzzyklisches Kundenfeedback. Teams (nicht Individuen) erhalten mehr Freiräume und Eigenverantwortung auf der Basis höherer Selbstorganisation. Sie übernehmen Verantwortung für selbstdefinierte Leistungs- und Entwicklungsziele und die Art und Weise ihrer Erreichung.
Individualität (Diversity) und individuelle Lebensentwürfe (flexible Arbeitsstrukturen) erfahren gegenüber Konformität eine höhere Bedeutung und Wertschätzung. In diesem Vortrag zeige ich, wie derzeit in zahlreichen Unternehmen unterschiedlichster Größe und Branchenzugehörigkeit ein Umdenken erfolgt. Das Spannungsfeld zwischen Stabilität und Agilität sowie dessen Relevanz für Innovationskraft wird für alle Anwesenden greifbar. Es wird deutlich, was diese Entwicklung für Führungskräfte, Mitarbeiter und Entscheider konkret bedeuten kann und wie eine Transformation hin zu einem alternativen Führungs- und Organisationsverständnis gerade bei traditionellen, hierarchischen Unternehmen möglich ist.
Geschäftsführer kleiner, mittelständischer und großer Unternehmen. Diesen englischsprachigen Vortrag habe ich bereits 2015 in Wien gehalten. Er scheint aktueller denn je.