Identitätspolitik in 9 Thesen

Ideologisch geprägter Irrweg oder konstruktiver Ansatz für mehr Gerechtigkeit?

Zahlreiche Meinungsbeiträge, Aktivitäten oder Lösungsvorschläge zu den Themen Diversity, Inklusion und Equity basieren implizit oder explizit auf einer Reihe von Thesen, die einer identitätspolitischen Sichtweise entsprechen.

#1. Die soziale Wirklichkeit besteht aus abgrenzbaren Gruppen basierend auf Geschlecht, Herkunft, sexuelle Orientierung etc. Identität ergibt sich aus der (zum Teil selbstbestimmten) Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppen.

#2. Es gibt eine Ungleichheit in den Lebensbedingungen (Privilegien, Ressourcen etc.) zwischen den Gruppen. Dies ist ungerecht und muss bekämpft werden. Benachteiligte Gruppen werden als marginalisierte Minderheiten gesehen.

#3. Die Bedingungen der marginalisierten Minderheit sind die Folge einer Unterdrückung durch die unterdrückende Mehrheit. Es gibt Opfer und Täter. Es liegt an der unterdrückenden Mehrheit, sich zu ändern.

#4. Von Natur aus sind alle Menschen gleich. Unterschiede zwischen den Gruppen entstehen durch die Umwelt, in der die Mitglieder der Gruppen aufwachsen und leben. Sie sind also nicht genetisch bedingt.

#5. Ein (verblendetes) Mitglied der unterdrückenden Mehrheit kann sich nicht in die Erfahrungen und Sichtweisen der marginalisierten Minderheit versetzen. Mitglieder der marginalisierten Minderheit haben daher das natürliche Vorrecht, sich zu ihrer Situation und zu Lösungen zu äußern.

#6. Das Erleben eines Mitglieds der marginalisierten Minderheit entscheidet darüber, ob es sich bei einem beobachteten Verhalten um Hass oder Diskriminierung handelt. Das Erleben ist entscheidend, nicht die Intention des Akteurs.

#7. Ein Mitglied der unterdrückenden Mehrheit hat nicht das Recht, den Mitgliedern der unterdrückten Minderheit eine Mitverantwortung für ihre Situation zuzuschreiben oder sie in irgendeiner Weise zu kritisieren.

#8. Wer eine oder mehrere der obigen Hypothesen oder von der marginalisierten Gruppe vorgebrachte Lösungen in Frage stellt, handelt moralisch verwerflich und ist ein X-ist (Sexist, Rassist etc.).

#9. Es besteht eine moralische Verpflichtung, X-isten das Recht abzusprechen, ihre Sichtweisen, öffentlich zu artikulieren. Dafür mag auch die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt sein, wenn die öffentliche Hand zu versagen scheint.

Es ist grundsätzlich richtig und wichtig, Thesen jedweder Art kritisch, konstruktiv und nach Möglichkeit evidenzbasiert zu reflektieren und die gesellschaftlichen Folgen zu bedenken.