Die Geschichte von Thomas, dem Ingenieur

Thomas ist 31 Jahre alt. Er hat an der Technischen Universität Karlsruhe Elektrotechnik studiert und sein Diplom mit Auszeichnung bestanden. Bereits während seines Studiums konnte er in einem halbjährigen Praktikum in Schanghai Auslandserfahrungen sammeln. Nach seinem Abschluss stieg Thomas als Trainee bei einem Automobilzulieferer ein und entwickelte sich schnell zu einem gefragten Experten, insbesondere im Bereich der Steuerungselektronik. Er lernte schnell, in internationalen Projekten nah am Kunden zu arbeiten und verbrachte bereits damals viel Zeit in den USA. Nach drei Jahren wechselte er im Alter von 28 Jahren als Projektleiter in die Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines amerikanischen Autoherstellers nach Detroit, USA. Seine Karriere verlief sehr erfolgreich und es war klar, dass Thomas eine verheißungsvolle Zukunft vor sich haben würde. Nach weiteren drei Jahren kehrte Thomas zusammen mit seinen zwei Kindern und seiner amerikanischen Frau nach Deutschland zurück.

Neben seinen herausragenden Zeugnissen, seiner umfangreichen Erfahrung und Kenntnissen ist Thomas ein Mensch, mit dem andere sehr gerne zusammenarbeiten. Die Arbeit mit ihm ist immer konstruktiv, fordernd aber auch humorvoll. In seiner jungen Karriere konnte Thomas ein starkes internationales Netzwerk aufbauen. Neben der Arbeit bei ist Thomas leidenschaftlicher Freiwandkletterer und spielt Saxofon in der von ihm kürzlich gegründeten Band „Soulengine“.

Thomas hat eine eigene Website. Auf dieser tauscht er sich mit Kollegen und Freunden aus, führt seinen eigenen Blog und bewirbt unter anderem seine Band. Hier steht auch sein Lebenslauf mit der Anmerkung „Ich suche eine neue Herausforderung in Deutschland“. Ferner: „Unternehmen bewerben sich hier“. Wenn man auf „hier“ klickt, gelangt man zu einem Bewerbungsformular für Arbeitgeber. Bewerbungen per E-Mail sind bei Thomas unerwünscht und werden mit der Bitte erwidert, man möge sich doch der Einfachheit halber online bewerben.

Nachdem Thomas dieses Formular samt Aufruf zur Bewerbung eingerichtet hatte, fuhr er für zwei Wochen in Urlaub. Es war ihm wichtig, diese Bewerbungsmöglichkeit noch vor seinem Urlaub zu erstellen, weil er ja während seines Urlaubs nicht erreichbar sein würde.

Das Bewerbungsformular an sich ist recht umfangreich. Das muss es auch sein, damit sich Thomas ein umfassendes Urteil über einen Arbeitgeber bilden kann. Es beinhaltet Fragen zum Unternehmen und dessen Geschäftserfolge. Ferner besteht die Möglichkeit, Geschäftsberichte der vergangenen fünf Jahre hochzuladen. Arbeitgeber werden über Pflichtfelder aufgefordert, Ansprechpartner im Unternehmen zu nennen, an die sich Thomas wenden kann, um Referenzen einzuholen. Nicht fehlen dürfen Felder, in denen explizit nach den besonderen Stärken und Schwächen des Unternehmens als Arbeitgeber gefragt wird. Natürlich können die interessierten Arbeitgeber Informationen zu Stellenangeboten abgeben und entsprechende Stellenbeschreibungen in dafür vorgesehene Textfelder übertragen, ergänzt durch möglichst konkrete Gehaltsinformationen, Ansprechpartner und so weiter. Wenn sich ein Unternehmen bei Thomas bewirbt, dauert dies circa zwei bis drei Stunden. Das scheint auf den ersten Blick sehr aufwendig. Doch es ist von Thomas gewollt, weil er auf diesem Weg bereits im ersten Schritt prüfen kann, ob es ein Unternehmen mit seiner Bewerbung tatsächlich ernst meint.

Nach zwei Wochen Urlaub kommt Thomas zurück und prüft den Bewerbungseingang. Es sieht gut aus. 52 Unternehmen haben sich beworben. Eine automatische Eingangsbestätigung haben diese Unternehmen bereits erhalten. Jetzt prüft er deren Attraktivität als Arbeitgeber. Er merkt schnell, dass er die meisten Informationen eigentlich nicht benötigt und entscheidet bei den meisten relativ spontan ob sie passen oder nicht. Es dauert etliche Wochen, bis er an jedes der abgelehnten Unternehmen eine Absage schreibt. Gründe nennt er nicht, um nicht angreifbar zu werden. Er hat nicht die Zeit, auf jede Bewerbung einzeln einzugehen. Aber er bemüht sich um Freundlichkeit und Distanz. Das ist auch richtig, weil er sich ja für die Zukunft keine Chancen verbauen möchte. Am Ende entscheidet er sich der Einfachheit halber für einen Serienbrief.

Drei Unternehmen will er näher kennenlernen und verfasst ein individuelles Schreiben für jedes der vorselektieren Unternehmen: Daimler, Porsche und BMW. Er sucht sich zwei Tage aus, die ihm passen: der 23. und 24. März. Er schreibt beispielsweise an BMW: „Sehr geehrte Damen und Herren, es freut mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie in die engere Auswahl gekommen sind. Für ein Gespräch zum näheren Kennenlernen treffen wir uns am 23. März um 09:00 Uhr in der Albert-Einstein-Straße 17 in Stuttgart“ und so weiter. Eine Anfahrtsbeschreibung liegt anbei.

Herr Kanter von BMW nimmt den Termin war und erscheint am 23. März pünktlich um 09:00 in der Albert-Einstein-Straße 17, dem Wohnort von Thomas. Thomas ist nicht allein. Seine Frau ist mit dabei, ein guter Freund und seine Mutter. Das macht auch Sinn, weil Thomas am Ende nicht alleine entscheiden möchte, sondern auch auf die Meinung seiner engsten Vertrauten zählt. Gerade seine Mutter war immer eine gute Beraterin in wichtigen Lebensfragen. Thomas hat die Bewerbungsunterlagen von BMW mehrfach kopiert und jeder der Beteiligten hat einen kompletten Satz vor sich auf dem Tisch liegen.

„Haben Sie gut hergefunden?“. Beim Händeschütteln versucht Herr Kanter, sich die Namen der Anwesenden einzuprägen. Das hatte er sich vorgenommen, nachdem er in einem Buch der Autoren Schröder und Hase gelesen hatte, dass dies in einer solchen Situation vorteilhaft sei. Es fällt ihm trotzdem schwer.

Es geht direkt zur Sache und Herr Kanter wird ziemlich in die Mangel genommen. „Erzählen Sie mal etwas über BMW und wie es da so ist zu arbeiten?“; „Warum ist BMW davon überzeugt, für mich (Thomas) ein guter Arbeitgeber zu sein?“; „Was sind die größten Schwächen von BMW als Arbeitgeber?“. Herr Kanter hat sich gut vorbereitet und weiß, dass er die Frage nach der Bevorzugung katholischer Mitarbeiter bei BMW nicht ehrlich beantworten muss. Der Test, der ihm ausgehändigt wird, verunsichert ihn jedoch etwas. Da ist beispielsweise die Frage: „Welche Farbe spiegelt die Führungskultur Ihres Unternehmens am ehesten wieder? Gelb, Blau, Grün oder Violett?“. Aber Herr Kanter gibt sein Bestes. Er entscheidet sich für Blau – hat am ehesten was mit Bayern zu tun.

Nach zwei Stunden ist der Termin zu Ende und Herr Kanter wird freundlich verabschiedet. Ihn beschleicht nach wie vor ein Gefühl der Unsicherheit. Thomas hatte ihm zu keinem Moment ein Anzeichen gegeben, ob das Gespräch gut oder schlecht verlief. Ihm fiel nur auf, dass die Ehefrau von Thomas irgendwann im Gespräch ihren Bleistift quer auf den Tisch legte, worauf alle anderen urplötzlich weniger interessiert schienen. Trotzdem waren alle Beteiligten bis zum Ende sehr freundlich. Thomas lässt Herrn Kanter wissen, dass er sich irgendwann demnächst melden würde. Herr Kanter weiß, dass ihm Thomas keinen genauen Termin für eine Rückmeldung geben konnte. Er muss davon ausgehen, dass sich auch andere Unternehmen bei Thomas beworben haben. Dafür braucht man ja auch Zeit. Die Frage mit der Reisekostenerstattung getraut sich Herr Kanter dann doch nicht zu stellen, was kein Problem ist – das kann man ja auch zu einem späteren Zeitpunkt klären.

Nach drei Wochen ist noch immer keine Antwort da. Das schien bis dato kein Problem. Dann aber, nach sechs Wochen kommt die ersehnte Nachricht per E-Mail.

Am Ende entscheidet sich Thomas für das Unternehmen Porsche. Herr Kanter von BMW und die freundliche Dame von Daimler erhalten eine Absage. Irgendwie tun Thomas die Absagen auch leid und er schreibt in einer E-Mail, dass er durchaus von der Attraktivität von BMW und Daimler überzeugt sei, aber er hätte sich eben entscheiden müssen. Er bietet an, in Kontakt zu bleiben. Eine Kontaktanfrage über Xing an Herrn Kanter und an die Kollegin bei Daimler sollte die Ernsthaftigkeit dieses Ansinnen unterstreichen. Schließlich haben sich beide Unternehmen sichtlich um ihn bemüht.

Am 30. April schickt Thomas an die Firma Porsche eine freundliche Mail: „Es freut mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir zusammenarbeiten werden. Im Anhang finden Sie einen Vertragsentwurf mit der Bitte um Unterzeichnung bis zum 14. Mai“.